Mein erster Marathon

(jw) „Gievenbeck ist ein Stadtteil am Rande Münsters, dessen Kern aus einem Einkaufszentrum und einer Kirche besteht. Vielleicht waren sie schon einmal zu Gast in den herrlich hässlichen Bettentürmen des Universitätsklinikums. Wenn man dort weiter stadtauswärts fährt landet man nach kurzer Zeit in Gievenbeck. In Kinderzeiten war ich manchmal hier, da die Eltern meines Bonusvaters hier wohnten. Wenn ich an Gievenbeck denke, erinnere ich mich neben dem hier ansässigen 1.FC Gievenbeck, der es zu beachtlichen Erfolgen in der regionalen Fußballszene und bei den jährlich ausgetragenen Stadtmeisterschaften im Hallenfußball kurz nach Jahresbeginn gebracht hat, vor allem an eine der besten Eisdielen Münsters – „Eiscafé Milano“ –, an zahllose Garagen, die uns als Fußballtore dienten, an Samstagnachmittage mit „Brauner Bär“ und Sportschau. Der 03.09.2023 ist ein Sonntag, als ich ausgerechnet hier, im schönen Gievenbeck, bei Kilometer 38 das Lachen meines Lebens erlebe.

Es war immer klar, dass ich meinen ersten Marathon in Münster laufe. Mit dieser Stadt verbindet mich so viel: Ich habe in jedem einzelnen Stadtteil in den ersten 33 Jahren meines Lebens wahrscheinlich all das erlebt, an das man Jahrzehnte später wehmütig bei der falschen Songauswahl erinnert wird und das in wohl jeder Psychologievorlesung das Prädikat „prägend“ für die allgemeine Menschwerdung verliehen bekäme. Nachdem ich bereits Samstag angereist war um der 1:3 – Niederlage der Preußen gegen den Waldhof, sowie der abends eigens für mich von meiner Mutter anberaumten Pasta-Party beizuwohnen, finde ich mich frühzeitig gegen 8:15 Uhr am nächsten Morgen auf dem Schloßplatz ein. An einer solch großen Laufveranstaltung habe ich noch nie teilgenommen! Am frühen Sonntagmorgen wirkt es, als trügen alle Menschen, denen ich begegne, Laufkleidung. Alle zieht es in dieselbe Richtung: Schloßplatz. Ich finde mich im richtigen Startblock ein: „Ersties“ und tendenziell langsame Läufer.

Um Punkt neun Uhr erfolgt der Startschuss und in der Zeit bis dahin denke ich nicht viel, sondern beobachte einfach und sauge jede Wahrnehmung in mich auf. Nach allem, was ich über Marathons gelesen habe, wundert es mich selbst wie gut alles läuft. Nach den ersten Kilometern habe ich einen guten Laufrhythmus und einige Begleiter im selben Tempo gefunden. Noch wird laut gelacht und gefeixt, doch aus Ermangelung der Antwort auf die Frage, wie das wohl zwanzig Kilometer weiter aussieht, bleibe ich still und laufe vor mich hin. Das ist mein eigener Lauf. Das Kreuzviertel, die Aaseestadt, Nienberge, Roxel, Gievenbeck, der Prinzipalmarkt samt Innenstadt – manchmal während des Laufs weiß ich selbst kurzweilig nicht mehr, wo ich mich befinde. Alles läuft gut. Ich denke nicht in großen Abschnitten, sondern von Kilometer zu Kilometer, von Verpflegungspunkt zu Verpflegungspunkt, und ich weiß es sofort zu schätzen, dass jeder Kilometer per Straßenschild angezeigt wird, was den neurotischen Blick auf die Laufuhr erspart und mich so bei meinem Vorhaben unterstützt, einzig und alleine auf meine innere Stimme zu vertrauen.

Bei Kilometer 35 warte ich noch immer auf den viel zitierten „Mann mit dem Hammer“, der einem jegliche Stecker ziehen soll, und ich lächle, denn weiter bin ich ab hier noch nie gelaufen. Ab jetzt ist alles Bonus!  Bei Kilometer 38 schließlich, kurz nach einem Verpflegungspunkt, beschließe ich ein paar Schritte zu gehen. Ein Krampf kündigt sich in meiner Wade an und da ich weiß, dass ich diesen Lauf nicht mehr abbrechen werde – nicht 4 Kilometer vor dem Ziel – versuche ich mir die restliche Zeit möglichst angenehm zu gestalten. Die Leute hier in Gievenbeck tun alles, um die Motivation der Läufer aufrecht zu erhalten: Ganze Nachbarschaften haben sich zu Grillpartys zusammengefunden. Überall stehen Tische und Stühle am Straßenrand, es riecht nach Bratwurst und Bier, lokale Trommelgruppen versuchen einen Laufrhythmus vorzugeben und durch den groß gedruckten Vornamen auf der Startnummer sind auch persönliche Anfeuerungen möglich: „Los, Jörn, die letzten vier Kilometer, komm schon!“ Nach all den heroischen Gedanken und zahlreichen Erinnerungsfetzen dieses Laufs durch meine Heimat fühle ich mich erleichtert, dass ich mir eine kurze Phase des Gehens ohne schlechtes Gewissen erlaube. Das tut gut, und ich weiß, ich gebe nicht mehr auf.

Zuerst bemerke ich sie gar nicht, da ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt bin. Aber dann taucht sie doch vor mir auf: direkt neben einem Tapeziertisch, auf dem Wasser, Äpfel und Bananen wohl von privat bereitgestellt werden. Sie steht direkt auf der Strecke, die Hände in die Hüften gestemmt macht sie keinerlei Anstalten, hier irgendwem Platz zu machen. Ich schätze sie auf acht oder neun Jahre. Ihr Blick wirkt herausfordernd, fast spöttisch, und mit jedem Schritt, den ich auf sie zugehe, bekomme ich ein bisschen mehr das Gefühl als warte sie allein auf mich.

„Kannst Du nicht schneller, oder was?!“ pfeffert sie mir verständnislos entgegen und noch während ich mich frage, ob ich das richtig verstanden habe, fällt mein Blick auf eine Frau, augenscheinlich ihre Mutter, die auf einem Stuhl neben dem Tapeziertisch sitzt und direkt in lautes Gelächter ausbricht. „Nach 38 Kilometern darf man auch mal etwas langsamer machen,“ antworte ich dem Mädchen kleinlaut, aber als sie mir ihr angebissenes Snickers anbietet ist es auch um mich geschehen und die ganze Aufregung des Tages, die ganze Anstrengung, macht sich in einem lauten Lachen Luft. Mein Blick wechselt von dem Mädchen zur Mutter und zurück, ich gehe weiter und höre nicht auf zu lachen. Es sind noch etwas mehr als 4 Kilometer bis zum Ziel. Ich kann nicht glauben es gleich geschafft zu haben. Als ich auf dem Prinzipalmarkt direkt vor dem Rathaus über die Ziellinie laufe, lache ich immer noch. Oder weine ich? Die Grenzen sind da fließend. Fast verpasse ich den freundlichen Mann, der einem die schweren „Finisher“-Medaillen um den Hals hängt, ich nehme mir eine eiskalte Cola von einem Tisch und entdecke hinter der Absperrung die bekannten Gesichter meiner Familie. Alles passiert jetzt einfach ohne dass ich einen klaren Gedanken dazu fasse: die Umarmungen, die Gratulationen, später der Weg nach Hause – dieser Zustand wird so ähnlich noch für ein paar Tage anhalten. Mit dem Marathon ist auch der Trainingsplan beendet: sechzehn Wochen gezielte Vorbereitung, zwischen dem euphorischen Gefühl und dem Stolz auf das Erreichte mischen sich bereits jetzt leise Vorboten einer seltsamen Leere, die mich an die ersten Tage nach einem schönen Urlaub erinnert, wenn man zwar wieder zuhause, aber gedanklich immer noch am Meer ist:

Und jetzt? Was kommt jetzt?“