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Stunde Null

(jw) Es ist soweit: Null Uhr. Die Raketen erhellen den Himmel, in allen Richtungen ein buntes Spektakel, ich bekomme den Eindruck, dass zwei Jahre Feuerwerksverbot nachgeholt werden. Schon die Tage vorher knallte es die ganze Zeit in den Straßen, auch die Aktionsflächen in den Supermärkten waren spätestens um zwei Uhr mittags leergekauft. Und überall, wo mehr als zwei Jugendliche auf der Straße zusammenstehen bekomme ich es mit der Angst zu tun, unverhofft zum Ziel eines Böllers zu werden. Im Fernsehen laufen Dinner for One und Ekel Alfred, und in der Praxis und im Radio unterhalten sich die Leute darüber, was sie im neuen Jahr anders, ja besser machen wollen. Das ist das Silvester, das ich schon aus Kinderzeiten kenne: Dass das alte Jahr endet und dass neue beginnt will manchen glauben lassen, dass die Dinge auf Null gestellt werden, dass alles neu beginnt, ein bisschen ist das so, als läge nur aufgrund des Datums die Chance einer Veränderung in der Luft.

„Silvester habe ich in den letzten Jahren eigentlich immer auf dieselbe Art gefeiert,“ erzählt mir ein Patient, und bei dem Wort „gefeiert“ geht sein Blick aus dem Fenster, als ob er es vermeiden wolle mich anzuschauen. „Naja, feiern ist gut. Silvester hat sich nicht groß unterschieden von irgendeinem anderen Tag. Es ging immer nur darum, mich möglichst schnell abzuschießen. Ich habe auch das Interesse an Partys oder irgendwelchen Gesellschaften komplett verloren, im Gegenteil, das wurde mir irgendwann zu anstrengend. Ich hätte ja mein Trinken kontrollieren müssen, um nicht aufzufallen.“

Es ist soweit: Null Uhr. Ich stelle das Bier beiseite und möchte auch keinen Sekt mehr zum Anstoßen. Lange habe ich „gute Neujahrsvorsätze“ belächelt, weil ich nie verstanden habe warum der erste Januar so besonders sein soll. Umso mehr wundert sich mein Umfeld über mein Umdenken. „Du willst ein Jahr lang keinen Alkohol trinken? Warum das denn?“ Ich verstehe die Frage, denn in dieser Gesellschaft scheint Alkohol allgegenwärtig zu sein. Zu beinahe jeder Gelegenheit wird ein Glas gereicht, und wer kein Alkoholproblem hat, der braucht sich doch nicht selbst mit so einem Vorhaben in Geiselhaft zu nehmen. Und es stimmt: Es gibt keinen Grund mit dem Alkoholtrinken aufzuhören, aber es stimmt auf der anderen Seite ebenso, dass es auch keinen dafür gibt damit weiterzumachen. „ Ich möchte einfach etwas fitter werden,“ antworte ich also auf die Frage nach dem „Warum“, „Ich habe zwei Ziele dieses Jahr, einen Halbmarathon und einen Marathon, und Alkohol passt nicht in den Trainingsplan.“

Als Corona auf dem Höhepunkt war wurden alle Laufveranstaltungen, bei denen ich angemeldet war, abgesagt. Zwar lief ich privat weiter, allerdings nur für mich alleine. Wer schon einmal bei einer offiziellen Laufveranstaltung teilgenommen hat, der kennt den Unterschied und das Glücksgefühl unter Applaus über die Ziellinie zu laufen. Nachdem ich beschlossen hatte auch Läufe mit einem größeren Umfang unter Wettbewerbsbedingungen zu laufen war es schließlich jedes Mal dasselbe: Nach spätestens der Hälfte eines Trainingsplans wurde der jeweilige Lauf wegen Corona abgesagt. Es mag menschlich sein von Zeit zu Zeit in Löcher zu fallen, entscheidend ist es, da wieder herauszufinden. Als ich mich schließlich mit einiger Mühe und nach mehrmonatigem, eher unregelmäßigen Trainings aus meinem persönlichen Loch kämpfte, beschloss ich auf einem längeren Sonntagslauf noch einmal die Ziele Halbmarathon und Marathon anzugehen.

„Das Merkwürdige ist,“ fährt der Patient fort, „dass ich mich sogar geschämt habe, während ich getrunken habe, zumindest zeitweise. Ich wusste, dass das nicht gut war. Und Scham, ich meine echte Scham, ist schlimm.“ Sein Blick verrät, dass er genau weiß wovon er spricht, seine Finger spielen mit der Naht seines Hosenbeins. „Wieviel Tage ich verschenkt habe, wieviel Lebenspläne auf der Strecke geblieben sind…“

Es ist soweit: Null Uhr. Neujahr. Zwanzigdreiundzwanzig. Ab jetzt gehöre ich zu jenen bemitleidenswerten Gestalten mit Neujahrsvorsatz. Im April werde ich einen Halbmarathon laufen und im September einen Marathon. Zudem werde ich ein komplettes Jahr keinen Alkohol mehr trinken. „Hast du dir das gut überlegt?“ sagt meine Frau. „Du weißt ja: Der nächste Geburtstag kommt bestimmt.“

Ich habe es mir gut überlegt, obwohl mein Lachen etwas verunsichert ausfällt wie ein Vorbote zukünftiger Zweifel. Aber wenn ich schon nach Sartre zur Freiheit verurteilt bin, dann sind Zweifel wohl eine normale Begleiterscheinung meiner persönlichen Entscheidung.

„Ich habe es mir gut überlegt,“ lache ich, „aber wenn ich es in einer schwachen Minute vergessen sollte, kannst du mich ja daran erinnern.“

(Jörn Wandrey)