Ein Halbmarathon besteht aus vier mal fünf Kilometern

Fortsetzung aus der Juli-Ausgabe

(jw) „Und den letzten zwei Kilometern als kleine Zugabe. Als die zehn auf meiner Uhr erscheint greife ich nach einem Becher Wasser, der mir gereicht wird, und laufe einfach weiter. Ich registriere das Gesicht des freundlichen Helfers gar nicht, vielleicht war es auch eine Helferin, so viele Hände und Becher, dass ich das auf die Schnelle nicht zuordnen kann. Ich bin an jenem angenehmen Punkt angekommen, an dem ich einfach funktioniere. Meine Beine haben sich verselbstständigt und bewegen sich weiter, ohne dass ich das bewusst beeinflussen muss. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass Glück die Abwesenheit von Gedanken sei und ich frage mich, was der Unterschied zwischen einem Gedanken und der reinen Wahrnehmung ist. Sport kann Therapie sein, es gibt wohl kaum Situationen, in denen ich mich unmittelbarer mit mir selbst auseinandersetze. Ich bin mir nicht sicher ob es so etwas wie die Abwesenheit von Gedanken überhaupt gibt oder ob ich die Abfolge von Sinneseindrücken als Gedanken bezeichnen würde oder wo da überhaupt die Grenze liegt, aber so oder so geht es weiter, um die nächste Kurve rum, die nächste kleinere Steigung hoch und dann… was immer kommt. Der Patient fällt mir ein. Ist es vielleicht dieser eigenartige, vom Alltag losgelöste Zustand, den sich manch einer vom Alkohol verspricht? Zugegeben, es wirkt verlockend sich mit ein paar Gläsern in einen auf den ersten Blick ähnlichen Zustand zu versetzen, abgesehen davon, dass auch der lästige Trainingsplan vorher entfällt. Aber die anfängliche Leichtigkeit eines Rausches ist ein leeres Versprechen, auf das in den meisten Fällen Kopfschmerzen folgen. Bis auf wenige Male, bei denen ich wohl den adäquaten Sonnenschutz vergessen hatte, folgten auf meine Läufe noch nie Kopfschmerzen. Und wenn mir die Muskeln weh taten machte ich die eigenartige Erfahrung, das in einer gewissen Art sogar zu genießen.

Ein Halbmarathon besteht aus vier mal fünf Kilometern. Und den letzten zwei Kilometern, die einem dann noch drohen. Marathon-Erfahrungsberichte erzählen von dem Tag danach, an dem ein paar Stufen zum Problem werden können, weil alles weh tut. Davon bin ich weit entfernt. Bei Kilometer fünfzehn denke ich daran, dass das gerade mal etwas mehr als ein Drittel der Marathon-Distanz ist und für den Moment wirkt der Respekt davor ein bisschen wie Angst.

Ich fühle mich nach wie vor gut, auch wenn sich die ersten Muskeln bemerkbar machen und irgendwas von Aufhören faseln. Bin ich doch etwas zu schnell losgelaufen? Nein, das bin ich nicht. Ich kenne die Distanz. Ich weiß, dass das Ziel schon gleich auftaucht und dass ich es erreichen werde.  Die noch verbleibende Distanz entspricht in etwa meiner kleinen Hausrunde, die ich zur Not auch rückwärts bewältige, wenn man mich nachts weckt, denke ich, lächle und laufe einfach weiter.

Ein Halbmarathon besteht aus vier mal fünf Kilometern. Und den letzten, verdammten zwei Kilometern. Als die Zwanzig auf meiner Uhr auftaucht bin ich froh, dass ich es gleich geschafft habe. Die Zuschauer stehen jetzt enger beieinander, ich höre Musik unterbrochen von Durchsagen, welche Läufer und Staffeln es geschafft haben. Fremde Menschen feuern mich an und halten mir die Hände zum Abklatschen hin, ich glaube sogar, dass ich hier und da freundlich zurück grüße, aber eigentlich laufe ich nur vorbei, denn deswegen bin ich hier. Einundzwanzig. Noch ein letzter, nicht einmal kompletter Kilometer. Muss jetzt gesprintet werden, wie es um mich herum den Anschein macht? Oder einfach weiterlaufen? Oder Gehen, um diese letzten Momente richtig zu genießen? Dann habe ich es geschafft: Ich laufe über die Ziellinie und mein Name wird sogar ausgerufen. Meine Schritte werden langsamer, ich blicke mich um ob ich meine Frau irgendwo entdecke, aber ich sehe überall nur verschwitzte Läufer. Ich merke, dass ich in Bewegung bleibe, ich habe nicht den Drang mich hinzusetzen oder dergleichen, „wahrscheinlich das Adrenalin“, denke ich. Als ich meine Frau dann doch finde, steht sie mit einem Becher eiskalter Cola vor mir. Es gibt wohl kaum etwas Besseres als eine eiskalte Cola nach so einem Lauf. Und viele Schlücke sind es nicht, die ich dafür brauche.

Ein Halbmarathon besteht aus 21,0975 Kilometern. Einundzwanzig Komma Null-Neun-Sieben-Fünf! Natürlich würde ich lügen wenn ich behaupten würde, dass mich das nicht stolz macht. Meine Frau lacht und umarmt mich, nachdem ich die Cola getrunken habe. „Du hast es geschafft!“ ruft sie.

„Ja,“ antworte ich, „ich hab ´s geschafft.“