„Ostersonntag laufe ich zum Dankernsee, umrunde ihn einmal und laufe wieder zurück nach Hause. Es herrscht perfektes Laufwetter: einigermaßen kühl, aber schön dabei. Irgendwer hat einmal das Wort der „Sauerstoffdusche“ im Bezug zum Laufen geprägt, und genauso fühlt sich das an: Besser als jeder Kaffee macht mich das Laufen wach, erfrischt mich und allmählich sortiert sich mein Kopf. Im Alltag kommt es oft vor, dass sich Gedanke an Gedanke reiht, Frage an Frage, und manchmal ist das Ergebnis des gegeneinander Abwägens keine Lösung, sondern lediglich eine weitere, unbeantwortete Frage. Von Günter Grass wird erzählt er habe gern im Stehen geschrieben, hatte hierfür eigens ein Stehpult. Das kann ich gut nachempfinden. Es dauert normalerweise keine fünf Kilometer bis mein Kopf befreit ist vom Alltag. Die gleichmäßigen Schritte, der regelmäßige, tiefe Atem und die Welt, die sich gegen die Laufrichtung dreht: Ich habe es nur in seltenen Ausnahmefällen erlebt, dass mein Kopf sich nicht irgendwann in diesen Rhythmus einfindet. Wenn man in diesem Zusammenhang vielleicht etwas erhöht, kann Sport eine Form der Therapie sein. Und wie oft waren Fragen nach dem Laufen ohne mein bewusstes Zutun beantwortet! Meine Erfahrung ist die, dass so etwas wie „Antwort“ oder „Erkenntnis“ nicht nur in der Begegnung mit anderen lauert, sondern auch in der körperlichen Auseinandersetzung mit mir selbst.
Es ist soweit alles vorbereitet: Die Würstchen brutzeln auf dem Grill, die Salate stehen bereit und die Getränke sind kaltgestellt. Die Familie tummelt sich im Garten und ich entdecke meinen Sohn in kurzen Hosen auf dem Trampolin, der schönste Tag im Jahr: das erste Mal in kurzen Hosen. Ich trinke einen Schluck Wasser und mir fällt auf, dass ich nicht der Einzige bin, der keinen Alkohol trinkt. Im Gegenteil: Die beiden Kästen Bier stehen unberührt in der Garage und auch der Sekt bleibt unberührt im Kühlschrank. In meiner Jugend, in den letzten Jahren der Schulzeit, hatte es diesen Feier-Automatismus gegeben: Das Wochenende war gleichbedeutend mit Party und Ausgehen, stressig wurde es nur, wenn man nicht wusste wo etwas stattfand. Und selbst dann fuhr man schnell zur Tanke, besorgte Getränke und traf sich dann bei jemandem zuhause oder im Sommer am Kanal. Es stellte sich eigentlich nie die Frage ob Alkohol dabei getrunken wurde oder nicht, denn das war von vornherein klar. Das erste Bier, der erste Wein, der erste Vollrausch, das erste Mal ohne Erinnerung aufwachen – dem Ganzen haftete etwas verbotenes, etwas verruchtes an, und wer am längsten durchhielt war nicht nur Gesprächsthema Nummer eins am Montagmorgen in der Schule, sondern insgeheim auch Ideal, dem es nachzueifern galt. Damals machte ich mir keine weiteren Gedanken über Alkohol und die Wirkungsweise im Körper, es ging vielmehr um die Wirkungsweise als sozialer Klebstoff, als Stimmungsmacher und vermeintlicher Freund in Sachen Selbstbewusstsein. Wenn ich zurückdenke fallen mir Menschen ein, mit denen ich eigentlich nur unter Alkoholeinfluss zu tun hatte, Partybekanntschaften, beste Freunde für die begrenzte Zeit von einigen Stunden, die ich nüchtern entweder gar nicht traf oder mich wunderte, wie seltsam fremd sie einen Tag später wirkten. Es gibt Momente, in denen ich zeitversetzt über ein bestimmtes Verhalten oder über bestimmte Einstellungen meines jüngeren Ichs schmunzeln muss, durchaus in Verbindung mit einer Portion Scham, weil sich mir heute, Jahre später, alles so anders darstellt. Ich frage mich ob es möglich gewesen wäre damals einen ähnlichen Weg einzuschlagen wie der Patient und muss dies natürlich bejahen. Gleichzeitig frage ich mich wovon es abhängig war, dass genau das nicht passiert ist. Ich lasse meinen Blick schweifen, lege ein paar Würstchen nach und frage mich warum ich mich wundere, dass neben mir auch sonst niemand Alkohol trinkt. Sind das die letzten Überbleibsel meiner Partyjugend oder ist es tatsächlich so, dass bei beinah jeder Gelegenheit Alkohol kredenzt wird? Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus beidem, aber wie präsent das Nervengift Alkohol in unserer Gesellschaft ist kann nachvollziehen, wer mit offenen Augen durch den Supermarkt geht. Ich habe mich schon oft gefragt wie schwer es für Patienten mit einer Suchtproblematik sein muss einen Einkauf ohne Rückfallgedanken zu tätigen. Es gibt Länder, in denen der freie Verkauf von alkoholischen Getränken schlichtweg verboten ist, während hier bei jeder Fußballübertragung in der Halbzeit mehrere Bierwerbungen laufen. Zigarettenwerbung ist seit langer Zeit im Fernsehen verboten, die Diskussionen um eine Freigabe von Cannabis wird erbittert zwischen verschieden Parteien geführt und es gibt für alle Seiten gute Argumente, aber über Alkohol und den Verkauf wird selten bis nie diskutiert. Alkohol scheint die Droge zu sein, auf die sich diese Gesellschaft geeinigt hat.
Es bleibt an diesem Tag dabei, dass niemand Alkohol trinkt. Es wird auch nicht zum Thema, und ich freue mich wie leicht mir der Alkoholverzicht nach wie vor fällt. Es sind immer auch Umweltfaktoren, die das eigene Leben beeinflussen und wer nicht möchte, dass die eigenen Kinder nicht anfangen zu rauchen, sollte bestenfalls selbst nicht rauchen. Mir wird bewusst, wie schnell und einfach ein Lebensweg in die eine oder andere Richtung kippen kann und welche Rolle auch der Zufall dabei spielt, und in diesem Sinne empfinde ich auch Dankbarkeit für die Zufälle in meinem Leben.
„Ist Dir was aufgefallen?“ frage ich meine Frau.
„Nein, was meinst Du?“
„Die Bierkästen sind noch voll.“
„Wirklich? Ist mir gar nicht aufgefallen.“
„Mir schon…“
(Jörn Wandrey)